Das Dionysos-Heiligtum von Yria auf Naxos/Kykladen
Bearbeitung: Aenne Ohnesorg
In den 1920-Jahren hatte der deutsche Archäologe Gabriel Welter in der Schwemmebene südlich der Hauptstadt von Naxos einen Brunnen entdeckt, bei dem zwei vollständige, aber leicht unterschiedliche Säulentrommeln und ein großes archaisches ionisches Kapitell verbaut waren. Sie bezeugten nicht nur ein Säulenmonument, sondern einen größeren Bau.
1982 machten sich Mitglieder der Universität Athen (Archäologie) und der TUM (Baugeschichte) auf die Suche danach, vorerst erfolglos. In der zweiten Kampagne von 1986 wurden ca. 200 m weiter nordöstlich das Fundament der Prostase, die große Marmor-Türschwelle und die Adytonwand des Tempels (IV) entdeckt.
An den 14 Grabungskampagnen bis 1999 nahmen von griechischer Seite Vasilis Lambrinoudakis, Eva Simantoni-Bournia, Manolis Korres und zahlreiche griechische und ausländische Archäologie-Studenten teil, von deutscher Seite Gottfried Gruben, Aenne Ohnesorg, Martin Lambertz und verschiedene, auch studentische Mitarbeiter; die Finanzierung erfolgte durch die Universität Athen und die Gerda Henkel-Stiftung, Düsseldorf.
Nach und nach kamen vier über- oder besser gesagt ineinanderliegende Tempel ans Licht, in der umgekehrten Reihenfolge ihrer Entstehung, des weiteren eine Anlage im Westen, die sich als eine Kombination von Brücke, Propylon und Hestiatorion herausstellte, und die Umhegung des Temenos. Damit war das älteste und bedeutendste Heiligtum von Naxos gefunden, das dem Hauptgott der Insel, Dionysos, geweiht war. Der Kern des Heiligtums war eine schlichte spätmykenische Kultstätte, die unter den späteren Opferstätten liegt.
Der älteste Kultbau wurde im 9. Jh. v. Chr. als ca. 5 x 10 m große `Kiste´ inmitten der Sumpfebene errichtet (Abb. 1). Im Inneren fanden sich zwei Stützenbasen, die das Flachdach trugen, und eine Eschara. Der Zugang an der südlichen Schmalseite blieb für alle Nachfolger verbindlich.
Der zweite Tempel, nach der Mitte des 8. Jhs. entstanden (Abb. 2), unterscheidet sich äußerlich wenig, ist aber dreimal so groß (ca. 11 x 15 m). Die Innenraum ist durch drei Stützenreihen in vier Schiffe geteilt. Von deren ursprünglich 15 Basisplatten aus Marmor haben sich 12 erhalten. Im hinteren Teil des Raums liegt wieder eine Eschara.
Für Tempel III aus dem beginnenden 7. Jh. v. Chr. (Abb. 3) wurden teilweise die Wände des Vorgängers übernommen, aber die vier Schiffe wurden auf `kanonische´ drei reduziert. Die marmornen Basen waren nun gerundet und trugen Holzsäulen. Erstaunlich ist der Befund an der Südfront: hier gab es eine Prostase mit wahrscheinlich 4 ionischen Holzsäulen. Damit ist einer der ersten Prostyloi der griechischen Welt nachgewiesen.
Ab ca. 580 v. Chr. wurde der Nachfolger erbaut, der 13 x 29 m große Tempel IV, der die früheren Bauten umhüllte (Abb. 4). Hier waren nun nicht nur die acht InnensäuIen und die vier Frontsäulen aus Marmor, sondern auch die Türwand samt der Laibung und die Dachhaut. Der monumentale Tempel zeigte an der Front die inselionische Ordnung. Eine Prachttüre führte in das Innere mit einem wohl offenen Dachstuhl für das geneigte Dach. Südlich davor lag ein Marmor-Altar.
Vermutlich im 5. Jh. n. Chr. wurde der Tempel in eine Kirche umgewandelt.
Im Heiligtum von Yria sind durch die vier Tempel des Dionysos die Entwicklungsstufen der kykladischen Architektur von den Anfängen bis zum Höhepunkt in seltener Klarheit bezeugt.