Die Errichtung des Quartiers Neuperlach beginnt im Jahr 1967. Relativ kurz zuvor war der Wiederaufbau Münchens zu bewerkstelligen, sehr bald danach fanden die Olympischen Spiele statt. Es ist kaum vorstellbar, zu welch großartigen Visionen und in der Folge erstaunlichen Leistungen die Münchener Stadtgesellschaft fähig war. Neuperlach entstand als gemeinschaftliche Reaktion auf drängende Wohnungsnot: Das Siedlungsprojekt war eines der größten in ganz Europa.
Mit ihm sollte mehr als eine Entlastungsstadt geschaffen werden, es ging um die Verwirklichung einer anderen Vorstellung vom Leben in der Stadt, um eine Art „Neue Stadt“. Fragt man heute nach den architektonischen Leistungen der 1960er- und 1970er-Jahre in München, werden gemeinhin nur die Olympiabauten von Günther Behnisch genannt. Die planerische Leistung, die zur Entstehung Neuperlachs führte, ist nicht Teil des kollektiven Bewusstseins.
Dieses Buch stellt keine Aufarbeitung der Geschichte des Quartiers dar, auch wenn es diese Geschichte berührt. Es leistet nicht dessen Einordnung in die Architektur der Welt, wenngleich der Kontext der Weltarchitektur berücksichtigt wird. Der Band enthält auch keine gesamtplanerische Neuordnung des Viertels, obwohl Vorschläge gemacht werden, wie man bei solch einer Planung strategisch vorgehen könnte. Das Buch möchte schlicht ein planerisch mittlerweile fast vergessenes Gebiet ins Bewusstsein holen, um dessen Potential zu vergegenwärtigen. Es versucht dabei, Vorhandenes aufzuzeigen und die zugrundeliegenden Einflüsse und darin verborgenen Möglichkeiten freizulegen. Dies soll helfen, die Komplexität des gesellschaftlichen Konstrukts Neuperlach zu verstehen.
„Verstehenwollen“ durch Ordnen heißt Forschung.
Aber verstehen, beobachten und interpretieren sind in diesem Zusammenhang kein Selbstzweck. Es geht durchaus auch um Veränderung, es geht um Handlung.
München hat aktuell der Entstehungszeit von Neuperlach vergleichbare Probleme, und es wird nicht mehr möglich sein, eine neue Entlastungsstadt in dieser Größe zu bauen. Es wird vielmehr darum gehen, die vorhandene Stadt umzubauen. Neuperlach ist hierbei nur ein Beispiel. Das Viertel ist 50 Jahre alt, die Gebäude stehen überwiegend vor einem Sanierungszyklus. Engagierte Planung tut not, denn der Umbau einer urbanen Struktur – soll er nicht ängstliches Bewahren sein – funktioniert nicht ohne Optimismus, Begeisterung und Hoffnung. Vor allem sollten wir uns nicht darauf verlassen, mit alten Mitteln neue Fragestellungen beantworten zu können. Zu komplex, zu speziell sind die Anforderungen im Einzelfall. Denn die Neubewertung des Vorhandenen braucht Bilder, hinter denen sich die Menschen versammeln können. Dazu muss man die Komplexität der entsprechenden Fragestellungen soweit reduzieren, dass Handlung möglich wird. Dies heißt Entwerfen.
Insbesondere beim Bauen im Bestand heißt Entwerfen, die verborgene Poesie im Vorhandenen zu entdecken und aufzuzeigen. Nur dann kann auf der Basis von Fakten und Forschung ein Funken entstehen. Ein Funken der Begeisterung, ein Funken der Vision, der imaginierten Möglichkeiten, ein positives Ziel.
Entwerfen ist ein Wurf auf ein solches Ziel hin. Dazu möchte dieses Buch Material liefern.
Herausgeber: Andreas Hild, Andreas Müsseler
Professur für Entwerfen, Umbau & Denkmalpflege
Neuperlach ist schön
ISBN 978-3-943866-65-0
Franz Schiermeier Verlag München, 2018
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