Theorie und Geschichte
Wozu Architekturgeschichte im Architekturstudium? Einige Thesen
von Dietrich Erben
Das kognitive Argument
Denken beruht auf Vergleich. Jede kognitive Leistung ist eine Vergleichsleistung, und erst durch Analogiebildungen erarbeiten wir Wissensstrukturen und entwickeln Bedeutungen. In der Wahrnehmung werden das Neue und das bereits Bekannte assimiliert. All dies gilt auch für visuelle Artefakte wie Gebäude. Bei ihrer Betrachtung tritt das aktuell Gesehene mit der Erinnerung an das früher Gesehene in Beziehung. Architekturgeschichte ist ein Speicher der Erinnerung an die Architektur, die auch den Blick auf unsere aktuelle Umgebung prägt.
Das wissenschaftstheoretische Argument
Der Sinn der Wissenschaft besteht in der Vermehrung des Wissens und in der Reflexion der Kontexte von Wissensproduktion. Also besteht auch der Sinn der Architekturgeschichte in der Vermehrung des Wissens über die Architektur und im Nachdenken darüber, wie dieses Wissen zustande kommt. Da der Wissensdrang Teil der menschlichen Kultur ist, bedarf Wissensvermehrung nicht einer zweckrationalen Rechtfertigung – etwa im Sinne der Behauptung: „Geschichte ist nur relevant, wenn sie für die Gegenwart klüger macht.“ Diese Zweckfreiheit gilt auch für die Wissensvermehrung in der Architekturgeschichte.
Das wissenschaftssoziologische Argument
Vertreter eines Faches reden meistens für Vertreter des eigenen Faches. Architekten reden für Architekten, Kunsthistoriker für Kunsthistoriker. Die Beteiligten reden in eigener Sache. Wenn jedoch Kunsthistoriker zu Architekten über Architekturgeschichte reden, wird diese Konstellation durchkreuzt. Kunsthistoriker sind eher im Stande, systemkritische Fremdbeschreibungen von der Architektur zu geben, während Architekten meistens von der Architektur systemloyale Selbstbeschreibungen geben.
Das methodische Argument
Ein fruchtbarer Ansatz für Lösungen von aktuellen Bauproblemen lässt sich nur am konkre-ten Gegenstand, an dem sich Fragen und vielleicht auch Antworten formulieren lassen, entwickeln. Bei Feststellungen allgemeiner Art – wie z.B. „Architektur dient dem Menschen“, „Funktion und Form bedingen sich“ – handelt es sich ohne konkreten Bezug um Klischees, die keine Antworten auf konkrete Probleme ermöglichen. Da jeder konkrete Gegenstand in seinem Entstehungsprozess zumindest vorläufig abgeschlossen ist, ist er auch ein historischer Gegenstand der Architekturgeschichte.
Das praktische Argument
Verstehen heißt stets, das Verstehen in Worte fassen zu können. Das Verstehen von Architektur bedeutet über eine genießerische ästhetische Reaktion hinaus einen komplizierten Prozess der Aneignung: Das Gesehene wird in Sprache übersetzt und damit zugleich systematisiert. Architekturgeschichte ist – wie die Kunstgeschichte allgemein – als historische Disziplin, die auf Texten basiert, dazu geeignet, zu diesem sprachlich begründeten Verstehen anzuleiten. Architekturgeschichte ist eine Instanz der Qualitätssicherung von zeitgenössischer Architektur.
Das humanistische Argument
Die Architektur ist wie Sprache oder Musik eine komplexe, unverzichtbare und unvermeid-bare Kulturtechnik des Menschen. Dieser Ausdruck der menschlichen Kultur ist aus Humanität begründet, die ihrerseits auf der Autonomie des Menschen basiert. Die Beschäftigung mit Architekturgeschichte verfeinert die Aufnahmefähigkeit und erweitert die Möglichkeiten produktiven Denkens. Architekturgeschichte befördert den Respekt vor den Gestaltungsleistungen früherer Architekten, relativiert die Selbstüberschätzung bei der eigenen Entwurfsarbeit und schärft das Qualitätsurteil für das Gebaute.
Das gesellschaftskritische Argument
Gesellschaftliche Verhältnisse sind historisch bedingt und unterliegen dem geschichtlichen Wandel. Geschichte relativiert nicht nur die eigene Gegenwart, sondern eröffnet auch Perspektiven auf deren Veränderbarkeit. Architektur ist der materielle Ausdruck einer Gesellschaft, deren Mitglieder sich ihre Bauten errichten und mit denen sie umgehen. Daher leistet Architekturgeschichte einen Beitrag zum Verständnis der Gesellschaft und zu den Möglichkeiten ihrer zukünftigen Gestaltung.