Potatoplan
München wird häufig mit dem Bild einer pittoresken, dichten europäischen Metropole verbunden. Die heutige Rolle als Verkehrsknotenpunkt, Hochtechnologiestandort und auf Naherholung und Hochkultur ausgerichtete "weiche" Metropole mit hoher Lebensqualität ist eng mit der Verschränkung aus monozentrischer Kernstadt und der allseitig umgebenden Landschaft verbunden. Die daraus folgende Radiallogik, unterstützt durch die Entwicklung der Stadt als monarchischem Herrschaftssitz zeigt sich in der hohen Bedeutung von Verkehrsachsen und Magistralen. Dennoch spielten der Transitverkehr und die strategisch günstige Marktlage nahe dem Flussübergang eine dominante Rolle für den Stellenwert der Stadt im gesamten süddeutschen Raum. Zur wirklichen Stadt am Fluss wurde München jedoch erst mit der Einfassung der Isar und dem Bau der flussnahen Stadtviertel von der Mitte des 19. Jahrhunderts an.
Die strukturelle Entwicklung Münchens ist geprägt vom starken Stadtwachstum der letzten zwei Jahrhunderte, Stadterweiterungen wurden zumeist als einzelne große Flächenentwicklungen und zunächst fast ausschließlich westlich der Isar realisiert. Ab der Wende zum 20. Jahrhundert bestimmten starke planungstechnische Voraussetzungen wie Theodor Fischers von 1904 bis 1980 gültiger Staffelbauplan maßgeblich die bauliche Entwicklung der Stadt. Zusammen mit dem Baulinienplan stellt dieses Instrument die Nutzungslogik einer formalen Struktur hintan, welche sich an bestehenden Wegeverbindungen und Flurstrukturen orientiert. Dieses Planungsinstrument schrieb Bauweise und Bauformen präzise vor, lies das bauliche Programm jedoch weitgehend offen.
Innerhalb der nördlichen Stadterweiterung lässt sich der Wandel zwischen der orthogonal angelegten Maxvorstadt und den organischeren Linienführungen eines stadtmorphologisch orientierten Städtebaus in Schwabing gut ablesen.
München ist die auf das Stadtgebiet bezogen am dichtest besiedelte deutsche Stadt, die ausserdem seit fast 75 Jahren keinerlei signifikante Eingemeindungen und Gebietserweiterungen mehr erfahren hat. Die Trennung zwischen Stadtgebiet und Umland wird daher schon beim Blick auf das Satellitenbild deutlich: ein dicht bebautes Stadtgebiet steht einem von Forst- und Landwirtschaft geprägten Umland gegenüber, die mittelalterlichen Rodungsinseln der umliegenden Dörfer und die entlang der Bahnachsen gewachsenen Vorstädte und Vororte prägen die Umgebung.
Die fehlende Strukturkonkurrenz im Aussenraum begünstigte Münchens Ausbreitung als flächige Radialstadt. Die nächste Metropole ist weit entfernt und die Landschaft bietet kaum natürliche Hindernisse, die agrarische Kulturlandschaft wird in diesem Prozess von der städtischen Entwicklung verwertet. Da die Urbanisierung allerdings arealscharf und unzusammenhängend geschieht verbleibt am Siedlungsrand eine ambivalente, im Plan weiß dargestellte Zone, welche, obwohl durchsetzt von Elementen und Relikten beider Sphären weder dem einen noch dem anderen Raumgefüge eindeutig zugeordnet werden kann. Besonders deutlich wird dies am halbkreisförmigen Bereich des nördlichen Umlandes: Wie Hinterlassenschaften sind einzelne Elemente hier in der ursprünglich dünn besiedelten Schotterebene verteilt. Wenige historische bedeutsame Städte und Orte im Umland wie Freising (Bischofssitz), Dachau und Schleißheim (Residenz) oder Fürstenfeldbruck (Markt und Kloster) bilden die Ausnahmen von diesem Stadt-Umland-Gegensatz.
Die Rolle der Industrie im Münchner Kontext ist von ihrer relativ späten Entwicklung und ihrer Ansiedlung entlang der Eisenbahnlinien geprägt. Eine dominante topografische Bindung - wie andernorts - durch einen Hafen oder eine direkte Flusslage gab es nie, auch große Landschaftsstrukturen wie die Flussauen, Parks und Forste hatten kaum Einfluss auf die Verteilung. Die verbliebenen, großmassstäblichen Konversionen im Stadtgebiet sind bis heute weniger auf Deindustrialisierungsprozesse zurückzuführen, als vielmehr auf die Verlagerung der Betriebe aus innenstadtnahen Flächen an den Stadtrand und die Umwidmung von brachgefallenen Verkehrs- und Militärflächen.
Das rasante Stadtwachstum im 20. Jahrhundert beschleunigte sich nach den Kriegszerstörungen vor allem im Sektor des traditionell bereits starken Siedlungsbaus. Die wenigen und schwachen Strukturmerkmale der Vororte beeinflussten die Erweiterungsmassnahmen weit weniger als der Staffelbauplan, der ebenfalls als Leitlinie für den restaurativen Ansatz des Münchner Wiederaufbaus diente. In den 50er, 60er und 70er Jahren beschleunigten die Olympischen Spiele, der Grosssiedlungsbau und der Ausbau von Verkehrsinfrastruktur dieses Wachstum weiter, ohne dass durch große gewachsene Strukturen nun eine Entwicklungsrichtung oder -logik vorgeprägt war. Im Stadtentwicklungsplan von 1960 wurde dann die schrittweise Siedlungsentwicklung und das dezentral konzentrierte Wachstum entlang der Bahnverbindungen in die Vororte festgeschrieben. Diese Leitidee beeinflusste Größe, Kohärenz und gegenseitige Beziehungen der Vorstädte sowie deren inneren Aufbau mit. Als Resultat liegen Bereiche, die sich aus schrittweise geplanten Arealen, Grosssiedlungen oder landschaftlichen Elementen zusammensetzen neben suburbanen Entwicklungen, welche aus massiver Baulandausweisung im Umland zwischen alten Dorfkernen und entlang alter Landstraßen und Bachläufe zusammengewachsen sind. Dazwischen finden sich wiederum Bereiche, die aus Infrastrukturarealen, Siedlungsfragmenten oder teils in Konversion befindlicher Industrie bestehen. So entstand eine Stadtlandschaft nebeneinander liegender Entitäten, mitunter als eng verknüpfter Archipel, teilweise aber ohne jeden Bezug zueinander. Diese "potatoes" lassen sich in ihrer Innenstruktur als Konglomerate, Sprawl oder gar Einschlüsse differenzieren und zeigen somit die Grenzen der gewählten Plandarstellung auf.
Diese "neuen" Formen spiegeln den Wandel in der Genese der morphologischen Entitäten wider. Als Mutationen offenbaren sie den Bruch zwischen der Vorkriegs- und Gründerzeitstadt, der Stadtentwicklung der Moderne sowie der aus mannigfaltigen Anpassungen und Transformationen des vorhandenen urbanen Bestandes herausgebildeten Stadtlandschaft der Gegenwart.
Der sich wandelnde Aggregatszustand bildet sich in einer nochmals verstärkten Divergenz der Entwicklungslogiken der Innenbereiche und der Aussenstadt ab. Anlagerung, Bündelung und das Zusammenbacken in den "inneren" Peripherien in den letzten Jahrzehnten führen zu einer erhöhten Integration des Kernbereiches, während die "potato" sich als Strukturmerkmal in den Aussenbereichen weiterhin erhält und auch in Stadterweiterungen wie Riem oder Freiham als genetisches Muster für die Weiterentwicklung zugrunde gelegt wird.
(Begleittext zur Kartendarstellung München, Roman Leonhartsberger und Mark Michaeli, 7. November 2016)